Freitag, 29. März 2013

Rundbrief 2



Bonjour tout le monde!                                                                            10.3.13




„HALBZEIT!“, schoss es mir vor ein paar Tagen plötzlich durch den Kopf. Tatsächlich bin ich jetzt – es ist kaum zu glauben – schon sechs Monate hier und bin überglücklich darüber.
Ich habe das Gefühl, wirklich hier angekommen zu sein, meinen Platz gefunden und mir mein eigenes kleines Leben aufgebaut zu haben.
Noch immer gefällt mir die Stadt sehr und ich bin jeden Tag wieder begeistert, wenn ich aufstehe und einen strahlend blauen Himmel und Sonnenschein sehe. Den Gedanken, dass ich den nächsten Winter wahrscheinlich wieder im grauen Deutschland verbringen muss, verdränge ich gerne; da ist mir das südfranzösische Klima, auf das die Franzosen so stolz sind, eindeutig lieber.

Zu dem für diesen Rundbrief vorgeschlagenen Thema „kulturelle Unterschiede“ kann ich nur Kleinigkeiten sagen, da sich die französische Kultur der deutschen nach meinem Eindruck sehr ähnelt.
Diese Kleinigkeiten jedoch fangen schon bei der Begrüßung an. „Les bisous“, da kommt man nicht drum herum. Egal, wie groß die Gruppe ist, zu der man hinzu stößt, die Küsschen gehören zur französischen Kultur, sie müssen sein. Ob man sich schon kennt oder nicht, ist hierbei irrelevant.
Allerdings ist damit noch längst nicht alles gesagt, denn Küsschen sind nicht gleich Küsschen.
Zum einen gibt es regionale Unterschiede; in Montpellier gibt man sich drei, in Paris beispielsweise nur zwei Küsschen. Falls es mal schnell gehen muss oder es sich um eine sehr große Gruppe handelt, darf man auch mal nur eins geben, dann jedoch mit Ansage bei jeder Person (ob das Zeit spart, ich bin mir nicht sicher).
Zum anderen gibt es auch unterschiedliche Arten, diese Gebräuchlichkeit auszuführen. Variante 1 besteht darin, nur leicht die Wangen des anderen zu streifen und die Kussgeräusche wegzulassen, sehr beliebt zum Beispiel bei Kindern – oder Ausländern, die der ganzen Sache noch skeptisch gegenüberstehen. Variante 2 beschreibt die normalen Berührungen der Wangen mit Kussgeräuschen, bei Variante 3 handelt es sich hingegen um dicke Schmatzer und ein „Ça va, ma puce?“ – wörtlich übersetzt „Wie geht’s, mein Floh“ – bei älteren Menschen nicht ungewöhnlich.
Wie man sieht, das Ganze ist schon fast eine Kultur für sich.

Marie und ich bei der Karnevalsparty an der Theologie-Uni, als wir versucht haben, die rheinländischen Traditionen einzuführen – die Franzosen waren eine Mischung aus verwirrt und entsetzt, als plötzlich alle Deutschen anfingen, Karnevalslieder auswendig zu singen

 „Une baguette, s’il vous plaît!“, nicht ohne Grund einer der Sätze der französischen Sprache, die man als erstes beherrscht. Grundsätzlich lässt sich sagen, Baguette gibt es immer und überall. Die Franzosen haben ein Talent dafür, es mit verschiedensten Sachen zu kombinieren, was uns zwar manchmal komisch vorkommt, jedoch nicht hinterfragt werden sollte, wenn man keine verständnislosen Blick ernten möchte.
Angefangen beim Frühstück. Es gibt hier keine große Frühstückskultur; selbst in Jugendherbergen wird häufig nur trockenes Baguette mit etwas Marmelade angeboten, welches man dann in den Kaffee oder die Milch taucht (ja, zusammen mit der Marmelade!).
Zum Mittagessen gibt es ebenfalls Baguette als Beilage, falls es sich um ein warmes Essen handelt. Ansonsten Sandwiches – auch nicht unmöglich: Baguette mit Pommes belegt.
Die dritte Mahlzeit am Tag, auf die auch deutlich mehr Wert gelegt wird, als in Deutschland, ist das „gouter“ – der Nachmittagssnack, etwa wie Kaffee und Kuchen. Beliebt ist hier jedoch auch die einfachste Art, sich energiereich zu stärken, und zwar Baguette mit einem Stück Schokolade.
Zu guter Letzt das Abendessen mit bekanntlich mehreren Gängen. Zur Vorspeise wird Baguette serviert, zur Hauptspeise, und nicht zu vergessen, zum Käse danach. Nur für die Nachspeise darf man sich für gewöhnlich eine kleine Pause gönnen.
Wer behauptet, die Deutschen würden viel Brot essen, der hat noch nie Franzosen Baguette essen sehen.
Allerdings gibt es auch beim Baguetteessen einige Fauxpas. Nur ein Beispiel dafür wäre beim Frühstück, denn wer hier nach Käse, geschweige denn nach irgendetwas anderem Salzigen fragt, wird sofort als Nicht-Franzose abgestempelt.

Auch wenn es sich hierbei vielleicht nicht um die „kulturellen Unterschiede“ handelt, die man bei dem Begriff erwarten würde, sind es doch die Dinge, die einen häufig zum Schmunzeln bringen und einem bewusst machen: Ich bin in Südfrankreich.

Seit dem letzten Rundbrief ist natürlich auch viel passiert. Weihnachtsfeiern mit blau und pink glitzernder Dekoration, ein großer Weihnachtsgottesdienst in der Adventszeit, zu dem Gemeindemitglieder jeden Alters ihren Teil beigetragen haben – sei es ein Theaterstück, ein musikalischer Beitrag oder ein Schattenspiel (Marie und ich haben neben der ganzen Vorbereitung mit den unterschiedlichen Gruppen mehr oder weniger erfolgreich und improvisiert mit Flöte und Klavier ausgeholfen) und viele Projekte mit den Kindern aus dem Centre de Loisirs, in dem wir Mittwochs arbeiten, wie z.B. Ausflüge in den Zoo, zum Bowlen oder einen Crêpe-Nachmittag, bei dem jeder einmal seinen Crêpe durch die Luft wirbeln durfte.

 
Meine Kindergottesdienstgruppe bei der Weihnachtsfeier

Über Weihnachten war ich zu Hause, was zwar etwas merkwürdig war, weil mir in einem Moment alles total normal vorkam, im nächsten wiederum völlig ungewohnt, aber trotzdem hab ich die Zeit sehr genossen und mich gefreut, meine Familie und Freunde wiederzusehen.
Anschließend haben wir mit mehreren Freiwilligen der EKiR unseren Mitvolontär Jens in London besucht.
Auch das war sehr schön. Wir haben uns die Stadt angeguckt, Silvester vor dem London Eye gefeiert und uns natürlich viel über unsere Erfahrungen während dieser ersten sechs Monate ausgetauscht.

Ein für mich sehr schönes Gefühl war, diesen Urlaub total genossen zu haben, natürlich auch etwas traurig zu sein, wieder fahren zu müssen, aber auf der anderen Seite zurück nach Montpellier zu kommen mit dem Gedanken: „Jetzt bin ich wieder zu Hause!“.
Vor allem das frühlingshafte Wetter, das uns empfing und uns dazu veranlasste, im Januar draußen im Park zu frühstücken und eine Fahrradtour an den etwa 15km entfernten Strand zu machen, versöhnte uns mit dem Alltag und ließ die zwei Monate danach wie im Flug vergehen. Bis vor zwei Wochen auch schon das Ski Camp vor der Tür stand.

Dieses organisiert der Pfarrer Joël seit einigen Jahren für Jugendliche von 11 bis 16 Jahren. Zwar ist der Träger die protestantische Kirche, allerdings muss man weder Mitglied der Gemeinde, noch evangelisch sein, um mitzufahren.
Marie und ich durften als zwei von acht Betreuern und einer Gruppe von 43 Jugendlichen dabei sein. Wir waren in einer Unterkunft in dem von hier etwa sechs Stunden entfernten St. Julien-en-Vercors, in der Nähe von Grenoble, untergebracht, von der wir dann jeden Morgen mit einem Reisebus zur Skistation gebracht und um 17 Uhr wieder abgeholt wurden.
Die 14 bis 16-jährigen durften in Dreiergruppen alleine Ski fahren, die Jüngeren teilten wir in Gruppen danach auf, wie gut sie schon fahren konnten und begleiteten sie dann mit je ein oder zwei Betreuern pro Gruppe.
Dadurch, dass wir unter Betreuern mittags meist tauschten, hatten wir viel Abwechslung. Besonders lustig war es mit einer Gruppe Jungs eigentlich mittleren Ski-Niveaus, die jedoch am liebsten den ganzen Tag nur schwarze Pisten „Schuss“ runter gefahren wären – tatsächlich, den Begriff „Schuss“ fahren gibt es hier auch, nur eben mit französischer Aussprache.




Sobald wir wieder in der Unterkunft angekommen waren, jeder sich geduscht hatte und wir zu Abend gegessen hatten, ging es quasi ohne Pause weiter mit dem Abendprogramm.
Das Projekt des Camps war eine Gerichtsverhandlung zum Thema „War Petrus Jesus treu?“.
Dazu bildeten wir drei Gruppen, die Kläger, die Verteidigung und die Presse.
Im Anschluss wurden Bibeltexte gelesen und die Rollen der Zeugen, Anwälte, Psychologen und weiteren Beteiligten verteilt. Es wurden Argumente gesammelt, Beweisstücke hergestellt (bespielweise die Taschentücher, mit denen Petrus sich die Tränen getrocknet hat) und sich eine Taktik überlegt, die Richter zu überzeugen.
Zusammen mit einer weiteren Betreuerin war ich für die Journalistengruppe zuständig. Neben Karikaturen, seriösen Artikeln und skandalösen Schlagzeilen, die wir an unser selbstgebasteltes schwarzes Brett pinnten, bereiteten wir kurze, talkshowähnliche Interviews vor, die wir während des Prozesses, der am letzten Tag stattfand, vortrugen.
Das Abendprogramm endete zwischen 22 und 22:30 Uhr nach dem „temps spi“, einem „spirituellen Moment“, der je von einem von uns Betreuern vorbereitet wurde und meist aus Gesang, einem philosophischen oder biblischen Text, Kerzenschein und einem Gebet bestand.
Da Joël so ziemlich jeden zum singen motivieren kann, war auch dies immer ein sehr schöner Abschluss.
Für die Betreuer endete der Abend allerdings erst nach der Vorbesprechung für den nächsten Tag beim „cinquième“ – der fünften Mahlzeit am Tag, bestehend aus Wein, Tee, Käse und Schokolade, gegen 12 bis 1 Uhr.

Als Bilanz kann man sagen, dass man zwar nach dem Camp mit Schlafmangel und ziemlich erschöpft ins Bett gefallen ist, aber dennoch super zufrieden und glücklich war.
Bis auf ein paar an einer Grippe Erkrankte hat alles blendend funktioniert; das Skifahren hat Spaß gemacht, die Landschaft war wunderschön, die Stimmung innerhalb der Gruppe war super, sowohl auf den Pisten als auch beim Abendprogramm waren die meisten noch viel motivierter, als ich zu hoffen gewagt hatte, und auch wenn wir dieses Mal als Betreuer mitgefahren waren, hatten wir am Ende ein wenig das Gefühl, von einer Klassenfahrt wiederzukommen.
Was meine Arbeit hier angeht, waren dies wohl die intensivsten und schönsten Momente bisher.


     
Auf der Spitze des Pic Saint Loups, einem 658m hoher Berg hier in der Nähe, auf den wir gestern geklettert sind


 Insgesamt geht es mir super und ich freue mich auf das nächste halbe Jahr in Montpellier!
Nächste Woche geht es für uns nach Tallinn zum Zwischenseminar der EKiR, worauf ich ebenfalls sehr gespannt bin.



Viele liebe Grüße

Jana

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